Samstag, 24. Februar 2007
12.01.2007: Tortellini und braune Soße
Ich schaffe es gerade noch etwas vom Frühstück ab zu bekommen, als ich den Speisesaal betrete. Es ist kurz nach 8 Uhr und um 8:15 Uhr wird rigoros abgeräumt. Als Svetlana und ich nach einem dennoch gemütlichen Frühstück das Schulhaus betreten, treffen wir Luciano. Er ist sehr offen und freundlich und wir kommen sehr leicht in ein Gespräch. Er erzählt, dass es im Dezember aufgrund der andauernden Dunkelheit wirklich schwer für ihn sei. Das, was ihn gerettet hätte, sei sein Espresso gewesen. Und überhaupt wäre er unser Mann, wenn es um Pasta oder Espresso gehe. Wenn ich einen richtigen Espresso haben will, dann solle ich einfach zu ihm kommen. Allerdings solle ich den Espresso nicht nach 15 Uhr trinken, weil ich sonst nicht schlafen könne. Es würde sich um wenig Wasser und viel Espresso handeln. Natürlich merke ich sofort an, dass dies getestet werden müssen. Wo ich selber jetzt 5 Monate auf meine Espressomaschine verzichten muss, da schlage ich so ein Angebot bestimmt nicht aus. Luciano ist also nicht nur von seinem Namen her ein richtiger Italiener. Ich habe mich sogar verschätzt. Er ist Süditaliener. Auf meine Frage, was ihn denn hierher ziehe, bekomme ich die Antwort, die ich in abgewandelter Form schon oft gehört habe. Er wollte nicht wie alle anderen nach Spanien oder Frankreich. Was die Musik angeht, spielt er hier in Schweden sogar in einer Schulband Gitarre. Auch er bekommt von mir die Frage gestellt, die mir aktuell am meisten unter den Nägeln brennt: gibt es hier Menschen, die skilanglaufen? Und er meint darauf, dass es in der Folkhögskola einige Schüler gäbe, die dies ab und zu machen würden. Hoffnung!
Als Luciano, Svetlana und ich noch im Gespräch sind, kommt Anita vorbei und möchte uns die Bibliothek erklären. Während sie uns mit einem nicht zu unterschätzenden Eifer alles zeigt und den Ausleihmechanismus erklärt, bekomme ich die Befürchtung, dass wir hier wohl ziemlich viel lesen sollen. Gleichzeitig merke ich jedoch auch, dass das bei mir nicht wirklich motivierend ankommt. Was mir auch irgendwie wiederum leid tut. Aber ich wäre ja schon froh, wenn ich das Buch hier lesen würde, das ich zu Weihnachten geschenkt bekommen habe. Insgesamt sind die Bücher hier eher alt. Anita erklärt uns auch den Grund hierfür. Zwei Drittel aller Neuerwerbungen bekommen Beine und kommen nicht wieder zurück und man weiss nicht, wer sie hat. Spontan stellt sich für mich die Frage, warum es dann überhaupt diesen Ausleihmechanismus gibt, der daraus besteht, dass man seinen Namen und das entliehene Buch auf einen Zettel schreibt und diesen in eine Kartonbox wirft. Da ich jedoch nicht um die Folgen einer solchen Frage weiss, behalte ich sie vorsichtshalber für mich.
Wenig später beginnt dann auch unser Schwedischkurs. Wir schauen eine Fernsehversion von Ibsens Hedda Gabler an. Ich habe das Stück noch nie gelesen und merke schnell, dass ich nur die Hälfte verstehe. Ein wenig vom Ernst des schwedischen Lebens eingeholt merke ich, dass noch viel zu tun ist. Da helfen auch nicht Anitas aufmunternden Worte, die uns erklärt, dass es sich hier um ein älteres Schwedisch handelt, was in dieser Form heute eigentlich nicht mehr gesprochen wird. Die Stunde endet mitten im Film. Somit fasse ich beim Verlassen des Klassenzimmers Plan A. Dieser beinhaltet, dass ich im Internet eine deutsche Zusammenfassung des Stückes lesen werde.
Als letzte Stunde der ersten Woche folgt nun das lange erwartete Fach Geschichte. Leider handelt es sich hierbei nur um eine Stunde in der Woche. Der Lehrer gibt uns einen Überblick über das, was wir in den nächsten 5 Monaten durchgehen werden. Obwohl es sich hierbei um allgemeine Weltgeschichte handelt, merke ich aus seinen Erzählungen schnell, dass man hier auch etwas über die schwedische Geschichte lernen kann. Zum Beispiel, dass die Kommune Kalix durch Industrialisierung (z.B. das Einführen von Motorsägen,...) und der damit einhergehenden Rationalisierung in der Forstwirtschaft eine höhere Arbeitslosigkeit und Auswanderquote hat, als viele andere Teile Schwedens. Als Erik uns vorrechnet, dass wir, wenn wir das Buch komplett durcharbeiten wollen, pro Termin 5 Seiten Schulbuch durchlesen müssten und das wohl etwas unrealistisch wäre, wird mir mal wieder der enorme Unterschied zum Studium bewusst. Da sind es schon mal 60 Seiten. Oder mehr? Interessant ist für mich auch, dass ein Schüler noch nie Geschichtsunterricht hatte. Ich höre sehr schnell damit auf, mir zu überlegen, wie dessen Schullaufbahn wohl ausgesehen hat oder was für eine Schule er früher besucht haben muss. Es passiert hier immer wieder, dass ich indirekt mit Dingen konfrontiert werde, die ich eigentlich für selbstverständlich halte und worüber ich gar nicht nachdenke.
Nach dem Mittagessen ist Schluss für diese Woche. Es ist kalt geworden und ich habe wirklich überhaupt keine Lust, trotz Helligkeit, in die Stadt zu gehen. Somit verbringe ich meine Zeit damit, mich erneut über die Möglichkeit einer Internetpräsenz zu informieren. Als ich über meine erste Schulwoche reflektiere, komme ich zu dem Ergebnis, dass alle sehr nett sind. Es ist eigentlich schon ein Glück, dass wir “Svetlanas Freund“ haben, der nervt. Es ist beruhigend, wenn nicht alle nett sind. Ich erinnere mich an Annas Worte, die mir erklärt hat, dass es zwei Sorten Mensch in Kalix gäbe: diejenigen, die Sport machen, Spazieren gehen und einfach ständig aktiv sind. Und die, die das Gegenteil davon sind. Und diese wären teilweise wirklich etwas komisch. Ich bin sehr froh, dass es hier im Internat anscheinend mehr von der aktiven Sorte gibt. Was den Schulunterricht angeht, scheine ich gerade dabei zu sein mir bewusst zu werden, dass es sich hier eben um Schule für Leute handelt, die ihre Schullaufbahn vor dem Abitur abgebrochen haben. Die Alterspanne meiner Mitschüler reicht von 18 bis Anfang 30. Der größte Teil ist um die 20 Jahre alt. Mein Hauptproblem wird hier somit das sein, weswegen ich hier bin: das Schwedisch. Falls das irgendwann auch kein Problem mehr ist, kann ich immer noch in die Journalistenlinie wechseln. Dort sind die Teilnehmer nochmals etwas älter und der Kursinhalt ist wesentlich anspruchsvoller. Somit wird es mir in keinem Fall langweilig werden. Aber dennoch habe ich hier bereits ein Problem ausgemacht. Und zwar handelt es sich hierbei um den Winter. Die Temperatur schwankt um die 0 Grad. Es schneit nicht richtig und alle Schweden sagen mir, dass es der komischste Winter seit vielen Jahren ist. Wo wir wieder beim Umweltjournalismus vom Anfang der Woche wären. Da mir hierfür jedoch keine Lösung einfällt, außer alle unnötig brennenden Lampen auszuschalten, entscheide ich mich dafür, einfach abzuwarten.
Weil ich für das Wochenende nicht ausgestattet bin, gehe ich zum ICA einkaufen. Obwohl Erdnussbutter definitiv zu den Sachen gehört, die in Schweden teurer sind, als in Deutschland, kann ich nicht wiederstehen. Auch die Wahl des ersten Mittagessens fällt relativ leicht. Was sollte man in Schweden anderes als erste selbstgekochte Mahlzeit essen, wenn nicht Köttbullar. Daneben landen noch weitere Dinge, die für das morgige Frühstück oder die Verpflegung am Wochenende bestimmt sind, auf dem Kassenband. Ein Unterschied zu den mir bekannten Einkaufsläden in Deutschland ist hier, dass die Ablage hinter der Kasse ziemlich weit nach hinten reicht. Somit hat man kaum die Möglichkeit, direkt hinter der Kasse zu stehen und seine Einkäufe während dem Einscannen bereits in den Einkaufstaschen zu verstauen. Das macht auch insofern keinen Sinn, als das man nach dem Bezahlen wieder ganz nach hinten gehen muss. Die Geldscheine oder Geldstücke werden von der Kassiererin in eine Kasse gesteckt, die aus verschiedenen Geldscheineinzügen besteht, wie man sie von einem Parkhauskassenautomaten her kennt. Das kleine Wechselgeld wird dann vom Automaten direkt an den Kunden ausgegeben. Und diese Ausgabe befindet sich noch vor der Kassiererin. Und somit ganz am Anfang des Kassenbereiches. Die Scheine werden ebenfalls automatisch bei der Kassiererin ausgegeben, die sie einem dann übergibt. Somit kommt die bekannte Zweiteilung der Ablagefläche mit dem bekannten Schieber in der Mitte, der immer so gestellt wird, dass die Waren des nächsten Kunden auf die andere Seite wandern, hier noch richtig zum Einsatz. Allerdings bin ich an dieses System nicht gewöhnt. Daher bin ich nicht der schnellste im Einpacken meiner Einkäufe. Und da ich aus meinen nervösen Augenwinkeln sehe, das auf die Nachbarfläche gerade die letzte Ware gelaufen ist, komme ich etwas in Hektik. Gleich..., gleich..., gleich muss der Schieber umgelegt werden. Und dann kommen die Waren einer fremden Person. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie sich der mächtige Schieber umlegt und ein riesiger Berg an Einkaufssachen dahinter erscheint. Erbarmungslos läuft das Band, das mechanische Monster. Und sie kommen. Und sie kommen immer näher. Doch kurz bevor sie mich erreichen, bin ich fertig und reiße meine Tasche von der Ablagefläche. Geschafft! Nichts wie weg. Hinter mir scheint irgendwer noch was zu rufen, aber ich höre bzw. verstehe nichts mehr, sondern mache mich auf den Weg nach Hause. Als ich meine Beute dort auspacke, merke ich mit Entsetzen, dass die braune Pfeffersoße fehlt. Ich war mir ganz sicher, dass ich sie an der Kasse noch auf das Band gelegt habe. Beim zweiten Suchdurchgang meiner Tasche fällt mir das Gerufe wieder ein. Mist! Da habe ich wohl doch nicht alles in der Tasche gehabt, als ich abgedampft bin. Der Gedanke an Reis mit Köttbullar ohne jegliche Soße wirkt nicht gerade appetitanregend. Aber ich habe keine Lust jetzt wieder durch die Kälte zurück zu laufen. Also werde ich schauen müssen, ob es Morgen noch eine Möglichkeit gibt, die Köttbullar zu retten.
Um mein leibliches Wohl muss ich mir heute Abend keine Sorgen machen. Luciano hat Tortellini mit Käse-Schinken-Soße gemacht. Wir sind sechs Personen. Svetlana, Luciano, Peter, Stefan, Boris und ich. Ich kenne alle aus der Allmän Linje. Plötzlich geht die Tür auf und 5 mir unbekannte Mädchen kommen nicht gerade leise in den Keller herein. Es dauert nicht sehr lange und dann sitzen 11 Personen an dem langen Tisch. Unter den fünf Mädchen ist auch die letzte ausländische Studentin, die ich bisher noch nicht kennen gelernt habe habe. Cintia aus Mexiko. Ich hatte nach den Berichten am Montag zwar mit einem Mexikaner gerechnet, aber das sich die Reception und Lehrer hier nicht so ganz sicher mit den Herkunftsländern und Wohnplätzen ihrer ausländischen Studenten sind, daran habe ich mich ja eigentlich schon gewöhnt. Da spielt es auch keine Rolle, ob sie männlich oder weiblich sind. Cintia fällt jedoch sofort auf, da sie zu Lucianos Tortellini den passenden mexikanischen Nachtisch liefert. In dem ganzen Tumult sitze ich an der einen Kopfseite des Tisches und bin ziemlich geschafft. Zudem ist mein Schwedisch nicht so fit, um wirklich in einer Gesprächsrunde unter Schweden am Freitagabend zu bestehen. Und ein weiterer, nicht zu unterschätzender Grund ist, dass mich der dominante Auftritt dieser Mädchengruppe, die nun die von mir aus gesehen rechte Tischseite komplett besetzt hat, ein wenig verunsichert hat. Es sieht wirklich aus, wie zwei Fronten. Links sitzen Boris, Luciano, Stefan und Svetlana und gegenüber “Die Fünf“, die alle ebenfalls hier im Haus wohnen, aber zur TV-Linje gehören. Und Peter ganz hinten zwischen diesen zwei, sich mit Worten, die ich oft nicht verstehe, beschießenden Fronten. Also entschließe ich mich einmal etwas neues aus zu probieren und einfach einmal still zu sein und die hier Anwesenden zu beobachten. Und das mache ich dann auch eine ganze Weile und es fällt mir überraschender Weise gar nicht so schwer. Und ist zudem interessant. Luciano scheint mein Verhalten jedoch nicht zu gefallen, da er mich nach einiger Zeit fragt, ob mit mir alles in Ordnung sei. Wenn irgendwelche Personen still sind, die nie den Mund aufmachen, dann kümmert sich keine Sau darum. Aber wenn ich mal eine Stunde nichts sage, dann denken gleich alle, es wäre etwas nicht in Ordnung. Mit der Erkenntnis, dass man sich nur schwer ändern kann, weil man von seinen Mitmenschen in sein eigenes Verhalten gezwungen wird, bin ich am Ende des Abends, den ich mit Luciano und Boris oben im Flur vor Lucianos Zimmer mit ein klein wenig Kräuterschnaps ausklingen lasse, dann wieder etwas wortfreudiger. Und wenn ich sage ein klein wenig, dann meine ich hier wirklich auch ein klein wenig. Denn Schnaps ist ein kostbares Gut in Schweden!